Innovationen gezielt beschleunigen

Moderne Lehre ist mehr als Frontalunterricht, bei dem die Kreidetafel und der Overheadprojektor durch ein Whiteboard ersetzt wurden. Moderne Lehre ist ein mitreißender Mix aus inspirierenden Lehrkräften mit didaktisch bestens aufbereiteten Themen und neuen technologiegetriebenen Ansätzen. Die RWTH zählt zu den Vorreitern dieser Entwicklung. Serious Games – also ernsthafte Lernspiele –, digitale Lehrräume, in denen Professorinnen und Professoren als Avatare mit ihren Studierenden auf Exkursion gehen, und virtuelle Vortragsformate sind bereits in der täglichen Lehre angekommen. Am Ende spannender Entwicklungsprozesse stehen wegweisende Ergebnisse, etwa: Phyphox.

Das ist eine App, entwickelt an der RWTH Aachen. Sie nutzt die Sensoren, die in jedem Smartphone eingebaut sind, für physikalische Experimente. So steht Phyphox für „Physical Phone Experiments“. Im September 2016 veröffentlicht, wurde die App im Januar 2020 bereits eine Million Mal installiert. Sie ist in 14 Sprachen verfügbar, sieben weitere sind in Vorbereitung. Auch gibt es ein Netz von Phyphox-Botschaftern in 30 Ländern. „Wir haben Phyphox als didaktisches Werkzeug für das erste Jahr des Experimentalphysik-Kurses entwickelt. Zielgruppe waren unsere 300 Studierenden, die Experimente durchführen sollten. Es war eine Überraschung, wie schnell sich die App über die RWTH hinaus verbreitet hat“, erklärt Professor Christoph Stampfer, Leiter des II. Physikalischen Instituts A der RWTH.

Mit zwei Smartphones lässt sich zum Beispiel die Schallgeschwindigkeit messen, mit mehreren Smartphones lässt sich die wellenartige Verbreitung einer Erschütterung im Boden nachweisen. Es können auch Magnetwellen gemessen werden – alles mit handelsüblichen Smartphones, die jeder Studierende heute besitzt.

Die Open-Source-Software Phyphox ermöglicht es den Studierenden der RWTH, viele Experimente, die bisher im Labor stattfanden, zu Hause und eigenständig durchzuführen – in Corona-Zeiten ist „Home-Experimenting“ ein unschätzbarer Vorteil. Und auch für die Praktika unserer Studierenden ist Phyphox ein unschätzbarer Gewinn: Denn nun können virtuelle Praktika mit Experimenten vergeben werden.

Phyphox hat darüber hinaus auch das Zeug, dem Ingenieur-Mangel entgegenzuwirken, indem Experimente und Handy-Rallyes für Kinder und Jugendliche konzipiert werden, um sie früh für Naturwissenschaften und Technik zu begeistern. Ein Einsatz ist aber auch in Entwicklungsländern gut möglich und trägt so zu einer höheren Bildungsgerechtigkeit bei.

Förderoptionen

Mit einer Förderung in Höhe von 3,5 Millionen Euro könnte die App Phyphox weiterentwickelt und die weltweiten Community-Aktivitäten könnten ausgebaut werden. Vorrangige Ziele sind dabei die Einbindung weiterer Sensoren, wie zum Beispiel der Kamera und externer Sensoren, sowie die Erweiterungen des User-Interface. Zudem sollen nachhaltige Strukturen zum dauerhaften Angebot und zur Weiterentwicklung der kostenlosen App beschleunigt und evaluiert werden.

Mit 15 Millionen Euro könnte eine „Phyphox Foundation“ gegründet werden, deren Mittel genutzt würden, um Strukturen und Einnahmequellen aufzubauen, die es erlauben, das gemeinnützige und soziale Plattformprojekt Phyphox nachhaltig zu betreiben und die bestehenden Dienste weiterhin kostenlos anzubieten und auszubauen. Insbesondere ist geplant, Serverstrukturen aufzubauen und Phyphox um Clouddienste zu erweitern, sodass weltweit neue Mehrwerte für Schulen und Universitäten geschaffen werden, welche digitalen Unterricht in beispielloser Form ermöglichen.

„Mit der App Phyphox verbessern wir nachhaltig den naturwissenschaftlichen und technischen Unterricht in Schulen und Hochschulen in Deutschland, Europa und weit darüber hinaus. Kinder und Jugendliche werden auf spielerisch-kreative Art motiviert, selbst zu experimentieren. Dies erhöht die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit weltweit!“

Univ.-Prof. Dr. sc. Christoph Stampfer

Vita

Univ.-Prof. Dr. sc. Christoph Stampfer

Univ.-Prof. Dr. sc. Christoph Stampfer, geboren 1977, ist Lehrstuhlinhaber für Experimentalphysik und Leiter des II. Physikalischen Instituts A. Er ist Sprecher des Aachen Graphene & 2D Materials Center, hat an der ETH Zürich promoviert und kam als JARA-FIT-­Juniorprofessor nach Aachen und Jülich. Er wurde Mitglied des „Jungen Kollegs“ der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und der „Young Scientist Community“ des WEF. Seine Arbeit wurde von der EU mit einem ERC Starting und einem ERC Consolidator Grant gefördert. 2020 wurde er mit dem Ars-legendi-Fakultätenpreis für die Physik-App Phyphox ausgezeichnet.


So wird das Smartphone zum Labor

Smartphones sind mit einer Vielzahl Sensoren ausgestattet. Hierzu zählen Beschleunigungssensoren, Gyroskope, Magnetometer, Lichtsensoren und sogar Drucksensoren (Barometer). In der Regel arbeiten diese unauffällig im Hintergrund. Beispielsweise sind Beschleunigungssensoren für die automatische Bildschirmdrehung erforderlich, und Magnetometer dienen als Kompass in der Navigation. Mit der Phyphox-App können all diese Sensoren über ihre eigentliche Aufgabe hinaus genutzt werden, und das Smartphone wird in ein mobiles Physiklabor verwandelt. Dies ermöglicht es, den technischen und naturwissenschaftlichen Unterricht für Schülerinnen, Schüler und Studierende in den ersten Semestern interessanter und interaktiver zu gestalten. Eine Vielzahl von Experimentbeispielen kann auf der Phyphox-Website (www.phyphox.org) gefunden werden.