Vom Atom zum Bauteil

Der Mensch brauchte schon immer, heute mehr als jemals zuvor, Materialien, aus denen Werkzeuge, Transportmittel oder Unterkünfte gebaut werden können. Die Bronzezeit und die Eisenzeit sind bedeutende Perioden der Menschheitsgeschichte, benannt nach den sie prägenden, metallischen Werkstoffen, die einen immensen Fortschritt ermöglichten. Und heute ist unsere moderne Umwelt immer mehr geprägt von metallischen Werkstoffe, auf die sie angewiesen ist.

Während Schmiede früher eher zufällig entdeckten, dass Eisenschwerter besonders fest wurden, wenn sie mehrfach in und über Kohlen erhitzt wurden, wissen Materialforscherinnen und -forscher wie Professorin Sandra Korte-Kerzel natürlich, dass das Eisen den Kohlenstoff aus der Kohle aufnimmt und er sich in die Kristallstruktur des Eisens einfügt und dieser Effekt die größere Festigkeit hervorruft.

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Ähnliche Fortschritte in der sogenannten Material-Physik haben viele andere Technologien erst ermöglicht, zum Beispiel moderne Düsentriebwerke, in denen Turbinenschaufeln kurzzeitig in Gas mit Temperaturen über ihrem Schmelzpunkt bei über 10.000 Umdrehungen pro Minute rasen und dann bei „nur“ 1.000 Grad Tausende Stunden stabil bleiben müssen. Daran haben frühere Schmiede nicht mal im Traum denken können!

Die Material-Physik bietet Ingenieurinnen und Ingenieuren aller Fachrichtungen vielfältige Verbesserungen: Moderne Autos werden aus immer leichteren und zugleich festeren oder verformbareren Metalllegierungen gebaut.

Dabei spielen Mikroskope eine zentrale Rolle: Wir haben Raketen zum Mond geschossen ohne zu wissen, was in ihrem Metall vorgeht. Heute unternehmen Materialwissenschaftlerinnen und Materialwissenschaftler in der Relation dieselbe unglaublich lange Reise bis zu den Atomen – und genau dort, in den atomaren und molekularen Strukturen, liegt der Schlüssel für die Materialien der Zukunft.

Ein anderes Beispiel, das den Fortschritt besonders plastisch vor Augen führt: Um einen Elefanten anzuheben, brauchte man früher einen Metall-Draht, der mindestens daumendick war. Heute genügt ein Draht, der dünner als ein Strohhalm ist – dank moderner Materialwissenschaften.

Materialforscherin Korte-Kerzel macht solche und andere Fortschritte möglich. Sie kennt und entwickelt physikalische Modelle, die ein Verständnis der Vorgänge auf atomarer Ebene oder auf der Mikrostruktur von Metall-Legierungen ermöglichen. Damit können die Eigenschaften bestimmter Legierungen vorherberechnet werden, zum Beispiel um strategisch seltene oder schädliche Elemente zu ersetzen, um Mensch, Umwelt und Ressourcen zu schonen. Oder es wird frühzeitig aufgezeigt, in welche Richtung weiter geforscht werden muss für bestimmte neue Anforderungen, etwa die Komposition von Kabeln für Hochspannungsleitungen, die verlässlich 50 Jahre halten sollen.

Die alten Schmiede haben eher zufällig Entdeckungen gemacht. Professorin Korte-Kerzel, seit 2013 Inhaberin des Lehrstuhls für Werkstoffphysik und Leiterin des Instituts für Metallkunde und Materialphysik, und die Kolleginnen und Kollegen ihrer Disziplin designen heute neue Metall-Legierungen, die für ihren Zweck am besten geeignet sind. Zuletzt wurde Korte-Kerzel für ihre Forschung mit einem begehrten ERC Starting Grant der Europäischen Union für ihren Antrag „Fundamental Building Blocks – Understanding plasticity in complex crystals based on their simplest, intergrown units“ zur Erforschung der fundamentalen Bausteine komplexer Kristalle gefördert. Zudem ist sie Sprecherin eines sogenannten Sonderforschungsbereichs (SFB) der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ziel des SFBs „Strukturelle und chemische atomare Komplexität – Von Defekt-Phasendiagrammen zu Materialeigenschaften“ ist, die Kenntnis der atomaren Struktur und Chemie für die Beschreibung und Vorhersage der Stabilität bestimmter (Material-)Defekte zu nutzen und diese konkret mit Materialeigenschaften zu verbinden. Auf diese Weise soll ein Werkzeug für das Materialdesign geschaffen und ein Paradigmenwechsel in der Beschreibung metallischer Werkstoffe erreicht werden.

Gleich modernen Alchimisten errechnen Materialwissenschaftlerinnen und -wissen­schaftler die Rezeptur neuer Werkstoffe – und treiben so den Fortschritt voran, auch um zum Beispiel Elektroautos und -motoren sicherer, leichter, langlebiger und ökologischer zu machen.

Förderoptionen

Mit einer Förderung von 5 Millionen Euro könnte die erfolgreiche Anwendung von künstlicher Intelligenz zur Analyse von Materialstruktur und Mechanismen der Gemeinschaft der Forschenden und der Industrie in ganz neuem Maße zugänglich gemacht werden. Hierdurch würde neues wissenschaftliches Verständnis von der Dimension hochauflösender Mikroskopie bis zur Größe eines Bauteils geteilt werden – ein Meilenstein für Wissenschaft und Anwendung zugleich.

Für 50 Millionen Euro könnte eine bisher nur rudimentär geschlagene Brücke geschaffen werden: zwischen Funktion und Festigkeit. Mit neuen Methodenkopplungen in Metrologie, Mikroskopie und Spektroskopie könnte so beispielsweise elektromagnetische Performance mit mechanischen Kräften und Herstellprozessen gemeinsam bewertet und wissensgetrieben maßgeschneidert werden. Effiziente Elektrobleche in Antrieben sind nur ein Beispiel ungehobenen Potenzials mit riesigem ökologischen Hebel.

„Wir brauchen Materialien, die Menschen nützen und die Umwelt schützen. Die nächste Generation Hochleistungswerkstoffe designen wir vom Effekt ­weniger Atome bis zum Herstellprozess von vielen Tonnen – eine unglaublich spannende Reise und ­Herausforderung.“

Univ.-Prof. Dr. Sandra Korte-Kerzel

Vita

Univ.-Prof. Dr. Sandra Korte-Kerzel

Univ.-Prof. Dr. Sandra Korte-Kerzel, geboren 1979, ist Inhaberin des Lehrstuhls für Werkstoffphysik und Leiterin des Instituts für Metallkunde und Materialphysik. Sie hat an der University of Cambridge promoviert, war Juniorprofessorin für Werkstoffmikromechanik an der Universität Erlangen-Nürnberg und wechselte 2013 an die RWTH Aachen. Sie ist Sprecherin des Sonderforschungsbereichs „Strukturelle und chemische atomare Komplexität: Von Defekt-Phasendiagrammen zu Materialeigenschaften“ der Deutschen Forschungs­gemeinschaft an der RWTH. 2019 wurde sie von der EU mit einem ERC ­Starting Grant ausgezeichnet.


Modernes Materialdesign ist zielgerichtet

Modernes Materialdesign für technische Anwendungen in Transport, Energie und Produktion beginnt auf der atomaren Skala. Dabei wird die lokale Struktur und Zusammensetzung mit den physikalischen Prozessen der Verformung auf allen Skalen vom sub-Nanometer bis in den Millimeterbereich in direkte Verbindung gebracht. Höchstauflösende Elektronenmikroskopie (links) und die quantitative Vermessung von lokalen Verformungsereignissen (Mitte links) ermöglicht die Aufklärung von lokalen Mechanismen, die sich gezielt durch (oft quantenmechanisch geführtes) Legierungsdesign kontrollieren lassen. Künstliche Intelligenz in der Mikroskopie erlaubt es schließlich, das lokale Grundlagenverständnis mit dem globalen Zusammenspiel bis auf die Millimeter-Skala zu verbinden. Auf diese Weise wird ein wissensbasiertes und für die jeweilige Anwendung zielgerichtetes Materialdesign ermöglicht.