Das jährliche Rahmenprogramm des Karlspreises an der RWTH wird vom Projekt „Leonardo“ mitgestaltet. Die Preisträgerinnen 2022 waren Maria Kalesnikava (vertreten durch ihre Schwester), Swetlana Tichanowskaja und Veronika Tsepkalo (Mitte, v.l.n.r.).
Andreas Schmitter

Interdisziplinäre Lehre für kreative Köpfe

Das Projekt „Leonardo“

Schon seit 2009 hat sich das Projekt „Leonardo“ der RWTH Aachen dem Ziel verschrieben, Studierenden einen Blick über den eigenen Studiengang hinaus in die vielfältigen Disziplinen anderer Fachbereiche zu bieten – interdisziplinär und für kreative Köpfe. Dazu organisiert und konzeptioniert das Projekt Lehrveranstaltungen, die mindestens von zwei verschiedenen Sichtweisen auf ein Themengebiet blicken.

So werfen typischerweise zwei Professor*innen aus verschiedenen Fakultäten einen Blick auf die Thematik der Lehrveranstaltung und eröffnen eine kontrastierende Einsicht in interdisziplinäres Denken. Zusätzlich gibt das Projekt „Leonardo“ auch studentischen Eigeninitiativen eine Plattform, um einerseits solche Themen zu bearbeiten, die Studierende maßgeblich interessieren, und andererseits das Engagement von Initiativen sichtbar zu machen. Für hochkarätige Vortragende ist aufgrund des großen Netzwerks stets gesorgt. Dazu zählten in den letzten Jahren beispielsweise Persönlichkeiten wie der langjährige ARD-Korrespondent in Israel, Richard C. Schneider. Neben Lehrenden der Philosophischen Fakultät engagieren sich Kolleg*innen der Profilbereiche der RWTH Aachen oder die vielfältigen und professionellen studentischen Eigeninitiativen. Projekt „Leonardo“ vernetzt diese Akteur*innen, um Studierenden neue Sichtweisen zu eröffnen und Interdisziplinarität erlebbar zu machen.

Was bisher im Fokus stand

Diese Bemühungen stoßen bei Studierenden auf reges Interesse. So nehmen an den bis zu zehn verschiedenen Lehrmodulen pro Semester jeweils rund 1.000 Studierende teil. Thematisch sind die Lehrveranstaltungen bei  „Leonardo“ breit gefächert, etwa mit Vorlesungen wie „Zukunft der Medizin“ oder auch Seminaren zum Thema Strukturwandel. Dabei müssen vier Grundgedanken immer erfüllt sein:

  • Die Veranstaltung muss für Studierende aller Fachrichtungen mit fast jedem Vorwissen zugänglich sein.
  • Interdisziplinarität muss für alle Studierenden greifbar gemacht werden.
  • Verantwortung für Wissenschaft, Forschung und Lehre muss Teil der Lehre sein.
  • Studierende erleben durch Teilhabe an der Lehre das Gefühl, an globalen Herausforderungen arbeiten und Gestaltungsspielräume identifizieren zu können.

Der Grund für diese Profilierung liegt in den Herausforderungen, denen Absolvent*innen der RWTH Aachen in ihrer weiteren Karriere oft begegnen: In vielen Berufen ist die Kooperation und Interaktion in interdisziplinären Teams mittlerweile selbstverständlich. Der „Sprung ins kalte Wasser“ eines neuen Themas und das schnelle Zurechtfinden in neuen Problemfeldern ist oftmals Alltag. Dies lässt sich nur erfolgreich bewältigen, wenn Studierende lernen, jeweils andere Disziplinen ein- und wertzuschätzen. In den „Leonardo“-Lehrveranstaltungen werden diese Fähigkeiten beispielhaft vermittelt und geübt.

Politik und Kultur als wesentliche Bestandteile des Projektes

Die globalen Herausforderungen unserer Zeit beschränken sich nicht allein auf technische Fragen, politische oder kulturelle Fragen sind ebenso wesentlich. Ein Beispiel aus dem letzten Semester ist die Lehrveranstaltung zu „Antisemitismus und Neue Rechte – Bestandsaufnahmen und Analysen“. In dieser Veranstaltung wurden die Zusammenhänge hinter einer politischen Entwicklung, die innerhalb wie außerhalb der Universität viele Menschen bewegt und besorgt, analysiert und Handlungsmöglichkeiten für Einzelpersonen und engagierte Gruppen aufgezeigt. So war der renommierte Historiker und Publizist Volker Weiß - unter anderem Autor für „Die Zeit“ - ebenso zu Gast wie Talya Feldmann, Künstlerin und Überlebende des antisemitischen und rassistischen Terroranschlags von Halle im Jahre 2019.

Konzentrierte Aufmerksamkeit und sachkundige Nachfragen

Auch der Mitorganisator der Reihe, Professor Stephan Braese vom Lehr- und Forschungsgebiet Europäisch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, ist von dem Erfolg der Veranstaltung überzeugt: „‘Leonardo‘ hat die einzigartige Möglichkeit geboten, Studierende aller Fachbereiche an der RWTH mit den neuesten wissenschaftlichen Kenntnissen über Neue Rechte, Antisemitismus und Rassismus bekannt zu machen. Gerade angesichts des Vordringens rechtsradikaler Positionen in die Mitte unserer Gesellschaft in jüngster Zeit war es wichtig, mit international renommierten Expert*innen ins Gespräch zu kommen – sowohl über ihre Analysen als auch über Möglichkeiten des individuellen Engagements.

Die konzentrierte Aufmerksamkeit, aber auch zahlreiche, teils äußerst sachkundige Nachfragen seitens der Studierenden belegten eindrucksvoll das bereits existierende Problembewusstsein, aber auch das Bedürfnis nach einem Angebot wie diesem – ein Angebot, das drängende Fragen der Gegenwart, die uns alle betreffen, auf wissenschaftlichem Niveau aufgreift.“

Konzentrierte Aufmerksamkeit und sachkundige Nachfragen

Über die Lehrmodule hinaus werden einzelne Veranstaltungen organisiert. So wird das jährliche Rahmenprogramm des Karlspreises an der RWTH vom Projekt „Leonardo“ mitgestaltet. Als der Preis im letzten Jahr an die drei belarussischen Politikerinnen Swetlana Tichanowskaja, Veronika Tsepkalo und Maria Kalesnikawa verliehen wurde, rief das Projekt „Leonardo“ Studierende dazu auf, Fragen für eine Diskussionsrunde mit den Preisträgerinnen einzureichen. Die besten Fragen wurden dann beim Besuch der Preisträgerinnen an der RWTH durch die Studierenden persönlich gestellt. Weiterhin werden regelmäßig tagesaktuelle Veranstaltungen angeboten. So sprach beispielsweise im Dezember 2022 die deutsch-iranische Journalistin, Autorin und Ärztin Gilda Sahebi bei einer Diskussion über die aktuelle Lage im Iran.

Impressionen des Besuchs der Karlspreis-Preisträgerinnen 2022 an der RWTH

Fotos: Andreas Schmitter

Wie geht es weiter?

Das gut Etablierte wird weitergeführt. Und zugleich entstehen neue Aufgaben. Seit 2020 ist Projekt „Leonardo“ am Human Technology Center (HumTec) der RWTH angesiedelt. Der Dreiklang Forschung, Lehre, Verantwortung strukturiert die Arbeit dort. Deshalb kann das Projekt „Leonardo“ als eines der Aktivitätsfelder des Centers eine noch stärker integrierende Rolle für das Thema interdisziplinäre Lehre an der RWTH erhalten. Denn hier kann das Lehr-Know-How gebündelt werden, wie globale Herausforderungen, die immer sozio-technische sind, beschrieben und gelöst werden können. Es wird eine Kultur vermittelt, die integriert-interdisziplinäres Denken fördert und verbreitet.

Ein Ziel des Projekts „Leonardo“ ist die Schärfung des Blickes auf Technologie als nicht rein technische Innovation, sondern als Bestandteil von gesellschaftlicher Transformation.

Deshalb werden aktuell Angebote für Promovierende entwickelt, um leichter mit der Spannung zwischen disziplinärer Qualifikation und interdisziplinärem Problembewusstsein umgehen zu können und diese produktiv für die eigene wissenschaftliche Arbeit zu nutzen.

Kurz: „Leonardo“ mischte und mischt auch künftig immer dort mit, wo im Umgang mit komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen Studierende gefragt sind, die sich mit Begeisterung für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft einsetzen wollen. Denn für zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen bedarf es nicht nur bestens ausgebildeter Fachwissenschaftler*innen, sondern auch mutiger, engagierter Bürger*innen.

– Autoren: Lennart Göpfert, Sönke Hebing, Stefan Böschen